18.02.2024 11:00 – 12.05.2024 in der Galerie Waidspeicher / Kunstmuseen Erfurt

Der Ausdruck „Volume Cache“ stammt aus der Datenverarbeitung und beschreibt den abstrakten Vorgang der Zwischenablage von Dateien oder Datenblöcken auf einem Speichermedium. Lorenz Lindner widmet sich in seiner gleichnamigen Einzelausstellung dem Begriff selbst und dessen Bestandteilen: Volume für Speicher- oder Lagerplatz respektive Raum zum Deponieren – im digitalen als auch im analogen Sinne. Und Cache für einen Vorgang des temporären Aufbewahrens, wobei die spätere Weiterverwendung offenbleibt. Damit schlägt der gebürtige Erfurter eine Verbindung zum Ausstellungsort selbst, dem historischen Waidspeicher.

Das Gebäude diente ab 1467 als Lagerstätte für das sogenannte Färberwaid, eine Pflanze, die vornehmlich für die Gewinnung von Blau zum Färben von Textilien verwendet wurde. Anstelle der Färberpflanze versammelt der Künstler die für ihn typischen Kunstwerke aus gefundenen Materialien in den heute als Galerie für zeitgenössische Kunst genutzten Räumen: Malereien auf MDF-Platten, Objekte und Skulpturen aus Ästen und Holzresten, Fundhölzer auf und in Pappkartons aus dem Einzel- und Großhandel. In seinen Arbeiten stellt er Fragen nach Wert, Wertzuschreibung, dem Organisieren, Sammeln und Kategorisieren von Gegenständen, sei es im hoch technisierten und standardisierten Bereich der Marktwirtschaft oder ganz individuell im Privaten.

Ein wichtiges Spektrum in Lorenz Linders Schaffen spielen Sound- und Installationskunst. Im Zuge der Ausstellung nimmt er daher nicht nur Bezug auf die ursprüngliche Funktion der jetzigen Galerie für zeitgenössische Kunst, sondern gleichfalls auf ihren Klang. So entstand eine ortsbezogene Soundinstallation, die mit der Geräuschkulisse des Ausstellungsgebäudes arbeitet, diese aufgreift und verfremdet. Lindner schafft dadurch ein facettenreiches Spiel zwischen Damals und Heute, wirft Aspekte auf, die sich Kulturtechniken und ihren Orten widmen, die das Sammeln, Bewahren und Speichern zum Auftrag haben, und wie sie sich im Laufe der Jahrhunderte verändert haben.

Philipp Schreiner – Kurator Kunstmuseen Erfurt

„Guck mal, wie schön das Stück Holz dort ist!“

Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich sehe hier viele Handtaschen. Manche sind zum Anfassen, andere gemalt oder auf Plakaten abgedruckt. Genau genommen sind es nur Holzstücke und gebogene Äste. Ich weiß also, es sind keine Handtaschen. Man kann sie nicht öffnen und nichts hineintun. Trotzdem sehe ich welche. Denn das menschliche Gehirn ergänzt gern. Ein ziegelsteingroßer Korpus und ein Griff reichen aus und wir sehen eine Handtasche. Dieses Minimal-Prinzip ist eines der Leitmotive in der Kunst von Lorenz Lindner: Wieviel ist genug? Oft reicht wenig.

Der Titel der Ausstellung lautet „Volume Cache“,ein Begriff aus der Datenverarbeitung. Im Deutschen würde man von „Zwischenablage“ sprechen. Die Zwischenablage ist ein verborgener Speicher irgendwo im Nirwana des Computerinneren, ohne festen Ablageort. Er existiert eigentlich gar nicht, ist aber total wichtig, wenn man einen Datensatz verschieben möchte. Handtaschen sind auch Zwischenspeicher: man trägt wichtige Sachen darin herum, Sachen ohne festen Ort, ihr Ort ist die Handtasche und die ist immer unterwegs. Manche Dinge in diesem Zwischenablage werden nie benutzt, sie werden vergessen oder gehen verloren. Wenn Lorenz Lindner einer Ausstellung Volume Cache nennt und darin Handtaschen zeigt, lenkt er den Blick auf etwas, das sonst verborgen ist, auf das Nicht-Offensichtliche.

Ausstellungen sind Denkräume. Es geht um tiefschürfende Gedanken, aber eben auch um Orte. Hier befinden wir uns in einem ehemaligen Waidspeicher. Also auch ein Speicherort, ein analoger natürlich. Einst wurde hier Färberwaid gelagert: er kam nach der Ernte aus dem gesamten Thüringen hierher und wurde dann weiterverkauft, in ganz Europa. Damit war der Waidspeicher auch ein Zwischenspeicher.

Auf dem Waidhandel basierte im Mittelalter der Reichtum der Stadt. Bis billigere Färbemittel aufkamen und keiner mehr Waid haben wollte. Aus Dingen, die keiner mehr haben will, sind auch die Handtaschen gemacht. Lorenz Lindner sucht sich sein Material auf der Straße: In Hinterhöfen, in Parks oder auf Baustellen sammelt er Holzreste – vulgo: Müll – und baut daraus Handtaschen. Ausgerechnet! Handtaschen haben eigentlich ein hohes Ansehen. Vielen Menschen ist ihre Handtasche heilig, manche sind richtige Luxusobjekte.

Früher wurde alles, was wichtig ist, in Öl gemalt: Heilige, Geliebte, Könige, Rennpferde. Lorenz Lindner malt seine Handtaschen. Um zu zeigen, dass sie wichtig sind. Mise-en-scène nennt er diese Bilder von Dingen oder Kleinskulpturen, er setzt sie in Szene: Sie bekommen einen Boden und einen Hintergrund und gutes Licht. Nichts ist Zufall, alles wird bewusst komponiert. Anders als in der Produkt- und Werbefotografie trickst Lorenz Lindner dabei aber nie. Alles ist so gemalt, wie es wirklich ist. Seine Bilder sind wie ein Spiegel. Es sind ehrliche Bilder von ehrlichen Dingen, die aussehen wie Handtaschen.

Für solche besonderen Objekte braucht es natürlich eine besondere Verpackung. Verpackungen schützen das, was in ihnen steckt. Aber eine Verpackung ist immer auch ein Versprechen. Der direkte Zugriff auf das Objekt der Begierde ist verstellt, man muss die Verpackung erst öffnen. Die kleine Verzögerung bietet Zeit für Vorfreude. Je hochwertiger die Verpackung, desto langsamer und bewusster die Bewegungen. Das Auspacken wird zum Ritual. Lorenz Lindners Verpackungen sind extrem aufwändig. Jede Verpackung ist maßgeschneidert. Darin spiegelt sich der Respekt und die Wertschätzung gegenüber den Objekten im Inneren.

Künstler gelten gern als Chaoten, das ist totaler Quatsch. Alle Künstler, die ich kenne, sind extrem gut organisiert und gewissenhaft. Vor allem haben sie ihr Archiv im Griff. Um zu wissen was in einer Verpackung drin ist, muss man sie beschriften. Noch schöner ist es natürlich, wenn man die Verpackung bemalt. Lorenz Lindner malt außen drauf, was innen drin ist. Er stülpt das Innere nach außen. Nicht bloß als Skizze, sondern so richtig schön und ordentlich, mit Grundierung und in mehreren Schichten Tempera. Am Ende kommt Lack drüber, damit alles schön glänzt. Die Bilder auf den Verpackungen sind extrem hochwertig. Wie die Serviervorschläge auf manchen Produktverpackungen. Lorenz Lindner nennt diese Kisten lapidar „Transportkisten“, doch die Aufmerksamkeit, die er ihnen entgegenbringt, macht sie zu einem Teil des Kunstwerks. So wertvoll, dass auch sie eine Transportkiste brauchen. Im hinteren Teil der Ausstellung ist deshalb ein ganzer Raum mit solchen Transportkisten für Transportkisten zu sehen. Manche Transportkisten sind auch zu Sitzgelegenheiten umfunktioniert. Das Mobiliar lädt zum Verweilen ein, genau wie die Soundinstallation. Wie schon gesagt: Ausstellungen sind Denkräume, da ist es gut, auch mal ein bisschen sitzen zu können, um die Wirkung der Dinge aufzusaugen, die Atmosphäre zu genießen und ins Gespräch zu kommen. Irgendwann spricht dann bestimmt jemand von Duchamp.

1917 ging der französische Künstler Marcel Duchamp in New York in ein Sanitärgeschäft und kaufte ein handelsübliches Urinal aus weißer Industriekeramik, signierte es mit einem Pseudonym, gab ihm den Titel „Fountain“ – also Fontäne oder Brunnen – und reichte es zu einer Ausstellung ein. Es wurde abgewiesen. Begründung: Das sei kein Kunstwerk. In den Augen der Verantwortlichen musste Kunst etwas Erhabenes sein und das Kunstwerk einzigartig. Nichts davon passte zu einem für jedermann frei käuflichen, industriell hergestellten Massenprodukt mit Verbindungen zum Vorgang des Urinierens.

Duchamps Fountain löste ein Erdbeben in der Kunstwelt aus. Seither kann alles Kunst sein. Entscheidend ist der Wille des Künstlers. Der Künstler erklärt etwas zu Kunst – der Rest ist Beweisführung. Das Werk wird signiert, bekommt einen Titel und eine Archivnummer. Es wird gerahmt oder auf ein Podest gestellt, fotografiert und auf Postkarten gedruckt, es bekommt eine Transportkiste und wird in einer Kunstgalerie ausgestellt. Irgendwann geht die Beweislast vom Künstler auf die Kunstwelt über: ausstellen, abstauben, umsichtig verpacken, wieder verkaufen, bewundern, beschreiben, drüber reden, abdrucken, versteigern, unter Glas stellen, Eintritt dafür verlangen usw.

Hinter all dem steht immer der Gedanke: Das ist Kunst und die ist wertvoll. Lorenz Lindner stellt diese Mechanismen explizit zur Schau. Seine Werke sonnen sich im System. Bei ihm wirkt das spielerisch, fröhlich. Man könnte denken, es handle sich um eine Persiflage auf den Kunstbetrieb. Aber es ist keinesfalls ironisch gemeint. Im Gegenteil: Er benutzt das System und die Kunst als solche offensiv, um den Blick auf Kleinigkeiten zu lenken.

Wie bei den Lösungsansätzen, der größten Werkgruppe der Ausstellung: fast 70 Fragmente von Ästen, Stöckchen und Wurzeln auf einem Untergrund aus Pappe mit einer gedruckten Nummer. Sie sind noch viel krasser als Duchamps Fountain, bei den Lösungsansätzen hatte nicht mal ein Urinal-Designer seine Hände im Spiel, es sind reine objets trouvés, Fundobjekte, so wie die Natur sie schuf. Er sucht sie nicht, er findet sie einfach. Manchmal spricht ihn eine besondere Form an, manchmal die Farbe, eine moosbewachsene Oberfläche, ein abgeblättertes Stück Rinde. Wer mit Lorenz unterwegs ist, hört immer mal wieder den Ausruf: „Guck mal, wie schön das Holz dort ist!“. Lorenz Lindner erhebt hier ein Naturprodukt zur Kunst. Die Kunst besteht nicht in der Gestaltung, in der Form- und Farbgebung durch die Hand des Künstlers, sondern in seiner Entscheidung, der Behauptung.

Wie bei den Handtaschen steht auch hier der Gedanke Pate: Es braucht nicht viel. Es ist alles schon da ist, man muss nur mal genau hingucken. Die meisten Menschen sehen sich die Lösungsansätze sehr genau an. Das ist schön, da gibt es wirklich viel zu entdecken. Sicher sehen auch Sie irgendwo einen kleinen Geist oder einen Akt oder eine Tänzerin, einen Arm, einen Popo. Klar: Wölbungen an Ästen können wir auch im Wald studieren. Aber dort merken wir nicht, dass es sich um Lösungsansätze handelt. Dazu brauchen wir den Künstler. Er gibt den Lösungsansätzen eine Nummer und hängt sie an die Wand. Wie alles andere sind auch die Nummern vorgefunden. Es sind Nummerierungen auf Umverpackungen aus dem Supermarkt, auf Milchkartons zum Beispiel.

Es sind ziemlich viele Lösungsansätze hier versammelt. Logisch, es gibt ja auch viele Probleme. Irgendwas ist immer. Deshalb sollte eigentlich jeder einen Lösungsansatz daheim haben. Am besten mehrere. Nicht jeder Lösungsansatz passt zu jedem Problem, ein Generalrezept gibt es nicht. Aber was ist denn nun das Problem? Das ist völlig egal, suchen sie sich eins aus! Kunst kann immer helfen, die Perspektive zu wechseln, Dinge anders zu denken.

Damit sind wir – Überraschung! – beim Barockstilleben. Das Aufkommen von autonomen Stillleben im 16. Jahrhundert gilt als der Beginn einer intellektuellen Auseinandersetzung mit Kunst auf Seiten des Publikums. Ein faulender Apfel wurde nicht mehr nur als faulender Apfel gesehen, sondern als Zeichen für Vergänglichkeit. Andere Objekte standen für Macht, Reichtum, Leid, Zerstörung. Es ging nicht mehr darum, etwas darzustellen, sondern darum, über die Darstellung hinaus auf etwas Anderes zu verweisen. Es ging überhaupt nicht mehr um Dinge, sondern um Gedanken. Die Kunsttheorie nennt das „aboutness“, das „Über-etwas-sein“. Zu Kunst wird ein Gegenstand dann, wenn er ein Symbol für etwas ist, eine Art materialisierte Idee oder verkörperte Bedeutung. Lorenz Lindners Handtaschen und Holzstückchen weisen über sich hinaus auf etwas anderes. Aber auf was?

Mit allen seinen Werken erzählt Lorenz Lindner eine Geschichte über das Wieviel.Wieviel braucht es, um eine Handtasche zu sehen? Nicht viel. Lorenz Linders Kunst ist eine Kunst der Bescheidenheit. Es geht um Wertschätzung des Einfachen, des Beiläufigen, um die Liebe zu Kleinigkeiten. Das gilt für Naturerscheinungen genauso wie für Menschengemachtes, für Türrahmen, Stuhlbeine, Plastikspielzeug, ein Stück Strick in einem wunderschönen Blau, Müll. Damit steht Lorenz Lindner in der Tradition der Arte povera-Bewegung, deren Künstler Ende der 60er und 70er Jahre mit gewöhnlichen Alltagsmaterialien wie Erde, Kohle oder Stroh gearbeitet haben.

Entscheidend für die Kunst des Einfachen ist das rechtzeitige Aufhören. Nur weil noch mehr möglich wäre, muss man es ja nicht machen. Weniger ist mehr. Aber Aufhören ist wahnsinnig schwierig. Bei Lorenz Lindner entsteht daraus ein ganz eigener Stil. Auf den ersten Blick wirken die Werke vielleicht kindlich, aber das trügt. Was wir sehen sind Damenhandtaschen und Verpackungen, frühere Werke zeigten auch schon Zigaretten oder Pistolen, das ist überhaupt nicht kindlich. Lorenz Lindner vermeidet die Perfektion. Er hat Kunst studiert, an der renommierten Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, aber das Malen hat er sich ganz bewusst selbst beigebracht, als Autodidakt. Er sagt Nein zur Hochglanz-Konsumwelt und zu den Exzessen des Kunstbetriebs, zum allgemeinen Höher-Schneller-Weiter des Alltags, zu Selbstoptimierung und Perfektionismus. Aber er formuliertdieses Nein nicht als Nein. Seine Kunst ist durch und durch positivistisch: Er sagt Ja zur Schönheit in den oft übersehenen Dingen und zeigt sie einfach.

Lorenz Lindner ist kein Verweigerer, warum auch, das System hat seinen Sinn, es nutzt der Kunst, den Künstlern und dem Publikum. Deshalb muss man aber natürlich nicht jeden Exzess mitmachen. Lorenz Lindner lässt keine Designer-Sessel herankarren, damit das Publikum sitzen kann, Kisten tun es doch auch. Er jagt keine bombastischen Klänge durch den Raum, nur so was Zartes, Atmosphärisches. Hier wird nichts unter Glas präsentiert, manches steht einfach am Boden.

Lorenz Lindners Motive und Ästhetik sind ganz bewusst das Gegenteil einer Hochglanz-Konsum- und Kunstwelt. Seine Kunst ist die größtmögliche Wertschätzung des Beiläufigen. Low end, at it’s best. Und jetzt gucken Sie endlich selber mal, wie schön das Holz dort ist!

(Dieser Text ist die Rede zur Eröffnung der Ausstellung am 17.02.2024.

Text und Vortrag: Julie Metzdorf, Kulturjournalistin.)