25.08.2023

(FRANKLY)

Würde ich diese kurze Einführungsrede auf englisch halten, dann würde ich den ersten Satz wohl mit dem netten Wort „frankly“ beginnen. Etymologisch macht es mehr Spaß als seine Übersetzung: Vom proto-westgermanischen Wort für Speer bzw. Lanze geht die Reise über das dem frühen Bund der Franken anhängende Adjektiv „frei“ über das gleichbedeutende „franc“ im französischen bis zum heutigen mittelenglischen Gebrauch – All das klingt leichter als das deutsche Geständnis „Ehrlich gesagt“. Ehrlich gesagt: Ich habe in den letzten Wochen jedes Blatt gewendet, versucht dem bereits über Lorenz Lindners künstlerische Produktion Geschriebenen etwas Neues hinzuzufügen und bin dabei immer wieder in Sackgassen gelandet. Meine Assoziationen, was seine bildende und explizit nicht auditive Arbeit betrifft, waren die selben wie die meiner VorgängerInnen. Leuchtende Wortkombinationen wie „Alltäglichkeit der Materialien“ und „improvisatorischer Zugriff“ wurden begleitet von Begriffen wie Nachhaltigkeit und Konsumkritik.  Schließlich landete ich beim Drei-Buchstaben-Akronym JWD und habe versucht, von diesem Punkt weiter zu denken. 

(JWD)

JWD heißt – wie wahrscheinlich alle wissen – „Janz weit draußen!“ Diese noch recht junge Redewendung entstammt dem Berliner Raum, wo der Dialekt „janz“ für „ganz“ verwendet wird. Wann dieses Akronym zum ersten Mal auftaucht, ist unklar. Es wird vermutet, dass es etwas mit den Kürzeln der Zustellbezirke der damals noch geteilten Insel-Metropole zu tun hat. In einem TAZ-Artikel über sein installatives Performance-Projekt Molto bemerkte Lindner 2016 zur Genese seiner forschenden Musikbegeisterung in Erfurt während der letzten Jahre der DDR: „Meine Eltern hatten Bekannte, die aus dem Westen Platten geschickt haben, und wir hatten zu Hause auch Kassetten, mit denen wir aus dem Westradio fleißig aufgenommen haben. Alles war limitiert, und ich habe mir Songs immer und immer wieder angehört, alles ganz genau analysiert.“ Ein wackeliger Vergleich, der mir zu dieser Selbstbeschreibung in den Sinn kam, war die in den frühen 1960er Jahren vom Speculative-Fiction Autor Philip K. Dick geschriebene Kurzgeschichte „The Days of Perky Pat“.

(PERKY PAT)

In dieser Geschichte vegetieren die Überlebenden eines globalen Krieges in isolierten Enklaven im amerikanischen Kalifornien und improvisieren ihre Existenz mit dem, was sie in den Trümmern und den vom Mars (wohin sich der Großteil der Menschheit geflüchtet hatte) gesendeten Care-Paketen finden können. Die ältere Generation verbringt ihre unterirdische Freizeit mit der Perky Pat genannten Puppe in einem eskapistischen Rollenspiel, das an das Leben vor der Apokalypse erinnern soll. Die Begeisterung die (der 1959 eingeführten Barbie nicht unähnlichen) Puppe und die Herstellung ihres Zubehörs aus eigentlich lebenswichtigen Vorräten, entwickelt sich zu einem anästhetischen Wahn, der einen sinnvollen Wiederaufbau der zerstörten Gesellschaft verhindert. Wackelig war dieser Vergleich, weil die Materialität von Linders Objekten nicht von wichtigen Ressourcen zehrt, sondern das Übriggebliebene bzw. zivilisatorisches Treibgut und auch hölzernen Wildwuchs vom Brachland entschleunigter Stadtplanung nutzt. Die paradoxe Außerweltlichkeit des Akronyms JWD passt allerdings sehr gut. Die spielenden Menschen sind noch auf der Erde, aber vom neuen „Zentrum“ entfernt, genauso wie der zwar erwachsene, aber trotzdem zur jüngeren Generation gehörende Lindner gleichzeitig Teil seiner Kultur und außenstehend ist, während er seine quasi-archaischen Skulpturen schnitzt.

(MISE EN SCÈNE)

Die Displays, die beim Spiel von den auf der Erde verbliebenen Resten der Menschheit genutzt werden, ähneln eher peinlich-genau bestückten 3D-Storyboards als statischen Gesellschaftsspielbrettern. Das von Lindner als Ausstellungstitel gewählte „Mise en Scène“ (französisch für „in Szene setzen“) fügt sich wunderbar in dieses dystopische Narrativ. Die Bilder an der Wand zeigen Skulpturen, die sich gleichzeitig im Raum befinden. Sie scheinen die Beschreibung der potentiellen Inszenierung einer Theaterszene zu sein. Wie Serviervorschläge verteilen sich die Doppelungen an den Wänden. Lindners Gestaltung beinhaltet die Abmessung des Spielraumes, dessen Einrichtung, sowie die Ausgestaltung mit anspielbaren Gegenständen. Was fehlt sind die Anordnung sowie die Hinweise auf die Bewegung der SchauspielerInnen in diesen Szenen. Das Bild einer abgemalten französischen Verpackungstüte für Postkarten lässt deswegen kurz an Alain Resnais Film „Letztes Jahr in Marienbad“ denken. Der Ort der verlassenen Flure einer geschichtsvergessenen Inszenierung, an dem der Protagonist X unaufhörlich die Protagonistin A an Ereignisse des vergangenen Jahres erinnert, ohne dabei mit der Nennung eines konkreten Schauplatzes zu helfen. Seine Hinzufügung, es könne auch „hier“ gewesen sein, „in diesem Salon“, legt – in solch einer Assoziationskette – nahe, dass die abgebildete Szenen gerade nicht außerhalb, sondern vielleicht sogar hier – ohne innenarchitektonische Ähnlichkeiten – im Ortloff lokalisiert werden könnten.

(POMELO)

Ende Mai 2019 ist Lindner als Molto im Golden Pudel aufgetreten. Im Ausstellungsraum des Hamburger Clubs hing zeitgleich eines seiner Pomelo-Bilder. Die Pomelo-Frucht entstand durch eine mehrfache Kreuzung von Mandarinen und Pampelmusen. Sie ist in der Regel größer, süßer und hat eine dickere Schale als ihre Vorfahren. In manchen Kulturen werden Pomelos als Symbol für Wohlstand und Glück betrachtet. Sie werden z.B. häufig während des chinesischen Neujahrsfestes gegessen, um Reichtum und Erfolg im neuen Jahr zu sichern. Eine weitere chinesische Besonderheit ist das Qingming-Fest. An diesem Tag werden die Gräber gesäubert und vor ihnen werden Kopien von Dingen platziert, die die Verstorbenen zu Lebzeiten mochten. Außerdem werden industriell gefertigte Papier-Doppelungen von Geld und Gegenständen des täglichen Lebens verbrannt. Der deutsche Philosoph Wolfgang Scheppe hat um 2014 über diese Papiersimulakren und die mit ihnen verbundene Praxis Waren und Wertgegenstände in das Reich der Toten zu überführen eine Wanderausstellung konzipiert. Obwohl dieser volkstümliche Brauch die meiste Zeit seiner Geschichte politisch bekämpft wurde und nur auf mündlichen Überlieferungen außerhalb jeder Religion beruht, ist er durch und durch in das tägliche Leben integriert und existiert als ungebrochene Praxis seit 2.000 Jahren. Hier geht es zwar nicht um gefundenes Holz und Bildträger die aus Altpapier-Containern gefischt wurden, aber wusste Lindner eventuell von solchen Traditionen als er die Kopie der Ilford Instant-Kamera malte?

(CARGO KULT)

Kriegsmaterial, das während des Zweiten Weltkrieges massenhaft von der US-Armee über den melanesischen Inseln abgeworfen wurde, brachte drastische Änderungen des Lebensstils der Inselbewohner mit sich: Sowohl die Soldaten als auch die Einheimischen, die sie beherbergten, wurden mit Materialmengen regelrecht überschüttet. Mit dem Kriegsende wurden die Flughäfen verlassen und der Abwurf des „Cargos“ beendet. Darum bemüht, weiter Cargo zu erhalten, imitierten die Indigenen die Praxis, die sie bei den Soldaten gesehen hatten: Sie schnitzten Kopfhörer aus Holz und trugen sie, als würden sie im Flughafentower sitzen, sie positionierten sich auf den Landebahnen, entzündeten Signalfeuer und imitierten die wellenartigen Landungssignale. Es entwickelten sich Kulte, deren Anhänger davon ausgingen, dass die Fremden über einen Kontakt zu ihren Ahnen verfügten. Die Nachahmung der Fremden verband sich mit der Hoffnung, auch den Einheimischen möge ein solcher Brückenschlag gelingen. In einer Art sympathetischer Magie bauten sie Flugzeuge aus Palmwedeln oder schufen Baumstamm-Konstruktionen, die der militärischen Infrastruktur nachempfunden waren. Neben den besagten Kopfhörern wurden auch Kassettenrekorder aus Holz geschnitzt, um mit den Geistern Kontakt aufzunehmen. Wenn ich z.B. sowohl die als Objekt nachgebildeten Handtaschen, als auch ihre gemalten Doppelungen betrachte, beginne ich Linder genau diese sympathetische Magie zu unterstellen – Wo will er hin (Fragezeichen)

(BULLET TIME)

Dieses Fragezeichen wird mir immer sympathischer, wenn ich mir die auch auf der Einladungskarte abgebildeten Pistolen anschaue: Ein eingefrorener Schuss aus flexibler Weide. Mit einem deformierten Klotz als Kugel, die gerade in Zeitlupe auf etwas Unsichtbares zu treffen scheint. Ist diese simulierte Verlangsamung eine Verneigung vor dem durch den Film Matrix populär gewordenen Bullet-Time-Effekt? Sind die Pistolen Props für die, dieser Technik eigene Aneinanderreihung von Einzelbildaufnahmen derselben Szene durch mehrere Kameras, um dadurch den optischen Eindruck einer Kamerafahrt entstehen zu lassen? Trotz des grundsätzlich einfachen Prinzips benötigt dieser Effekt in der Praxis den massiven Einsatz von Computer-generierten Korrekturen. Geringste Abweichungen von den Einzelpositionen der gedachten Kamerafahrt müssen korrigiert werden. Lindners Pistolen lachen darüber: Wir sind schon da.

(SCHLUSS)

Im November 2019 haben wir zusammen in Lindners Leipziger Atelier gesessen und über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geredet. Wir können uns beide nicht mehr an dieses Gespräch erinnern. Aber weil da irgendwas geklappt hat, stehe ich nun hier an diesem Pult. Frankly: Diese Einführungsrede ist höchstwahrscheinlich nur eine Ansammlung von Versuchen, die an Lindners Arbeit vorbei denken. Bestimmte Details könnten zart deckungsgleich mit dem sein, was wir sehen: Neutronenbombe-Leere, Robinsonaden, Eskapismus, Mangel, der durchaus auch positiv besetzt werden kann. Um den Kreis zu schließen und so etymologisch aufzuhören, wie ich angefangen habe: Sprachursprünge tauchen auf und verschwinden wieder, falsche Herleitung führen zu alternativen Bedeutungen, Missverstehen aller Orten, Sprache fasziniert – – – Wie Lorenz Lindners Kunst.

Thomas Baldischwyler